Bildung ist Therapie

Die verrutschte Bandscheibe

Freitag, 19. Mai 2023

Kaum eine Struktur im Körper wird so oft für Schmerzen verantwortlich gemacht wie die Bandscheibe für Rückenschmerzen. „Ich habe Bandscheibe!" wie der Volksmund sagt. Aber stimmt das auch?

Tatsächlich wissen wir heute, dass nur ein sehr geringer Anteil der Rückenschmerzen spezifisch auf Bandscheibenprobleme zurückgeführt werden kann. Das Gros der Rückenschmerzen ist unspezifisch, weit über 85-90%, was bedeutet, dass man die Schmerzen keiner spezifischen Struktur zuschreiben kann. Rückenschmerzen sind nach heutigem Verständnis sehr komplex. Wie Sie sich sicher vorstellen können, gibt es für komplexe Probleme keine einfachen Erklärungen im Sinne von „die Bandscheibe ist schuld“.

Heute versteht man Rückenschmerzen in einem ganzheitlichen Krankheitsverständnis. Das bedeutet, dass es Faktoren auf verschiedenen Ebenen gibt, die Rückenschmerzen auslösen und aufrechterhalten können. Dazu zählen z.B. psychische Faktoren wie eine depressive Stimmung, soziale Faktoren wie z.B. die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz und biologische Faktoren wie z.B. Bewegungs- oder Schlafmangel.

Solche Faktoren kann man als „Schmerztreiber“ zusammenfassen. Ein moderner Behandlungsansatz umfasst dann natürlich auch viel mehr, als sich lediglich auf einen Faktor zu konzentrieren.

Wenn Sie sich das vor Augen führen und diesen Ansatz vielleicht für Ihre eigene Rückenschmerzproblematik überprüfen, dann werden Sie sicher verstehen, dass Schmerz mit viel mehr Faktoren als lediglich Ihrer Bandscheibe zu tun hat. Exakt das ist das Resultat der letzten Jahrzehnte im Bereich der Rückenschmerzforschung.

Aber zurück zu den Bandscheiben an sich. Veränderungen an der Bandscheibe sind zum größten Teil genetisch bedingt - also Augen auf bei der Wahl Ihrer Eltern. Weit weniger sind sie dagegen das Resultat von Verschleiß durch mechanische Belastung. So zeigte sich in Zwillingsstudien, dass Veränderungen an der Bandscheibe unabhängig von der Berufswahl und damit der Belastung auftraten, z.B. Bauarbeiter vs. Büroarbeiter.

Belastung und Bewegung sind dabei essenziell für die Gesundheit Ihres Körpergewebes. Gerade auch der Bandscheiben. So weiß man heute, dass Bandscheiben besonders „gesund" bleiben, wenn sie regelmäßig joggen, walken oder Fahrrad fahren. Inaktivität lässt die Bandscheiben schneller altern, so wie es auch für den restlichen Körper gilt. Auf solche Aktivitäten zu verzichten, um Ihre Bandscheiben zu schonen, wie es viele Menschen denken, ist völlig kontraproduktiv.

Bandscheiben lieben Bewegung und Belastung. Natürlich geht es auch hier nicht um Extrembelastungen.

Ein Mythos, der sich selbst unter Fachleuten hartnäckig hält, ist, dass die Bandscheibe verrutschen könnte. Das ist definitiv falsch!

Bandscheiben können nicht verrutschen oder rausrutschen. Sie sind durch starke Bänder, Muskeln und knöcherne Strukturen sehr stark fixiert.

Das Einzige, was passieren kann, ist, dass sich Bandscheibenmaterial aus der Kernregion durch einen Riss des Faserringes verlagert – das ist das, was bei einem Bandscheibenvorfall normalerweise passiert.

Doch auch dieser Vorgang muss nicht zwangsläufig von Schmerzen begleitet sein. Denn 19-29% der Menschen, die zufällig für eine MRT-Untersuchung ausgewählt wurden, erfuhren erst dadurch von ihrem Bandscheibenvorfall, ohne vorher jedwede Beschwerden gehabt zu haben.

Eine weitere gute Nachricht: Gut ⅔ aller Bandscheibenvorfälle werden vom Körper selber resorbiert d.h. aufgelöst. Paradoxerweise zeigte sich dabei sogar, dass, je ausgeprägter der Vorfall, desto besser stehen die Chancen für eine Resorption. Fantastisch, oder? Aber bedenken Sie: Für einen Rückgang der Beschwerden ist eine Resorption keine Voraussetzung! Bandscheiben sind Bandscheiben und Schmerz ist Schmerz.

Heute wissen wir, dass viele Operationen an den Bandscheiben unnötig sind und in der Regel eine nicht-operative, physiotherapeutische Behandlung vorzuziehen ist.

Eine Operation ist nur in den seltenen Fällen notwendig, in denen eine starke und zunehmende Lähmung der Muskulatur bzw. eine Blasen-Mastdarm-Funktionsstörung auftritt.

Es ranken sich also viele Mythen um unsere Bandscheiben. Fest steht aber, dass sie sehr robust, sehr fest verankert sind und nur selten die klare Ursache für Schmerzen sind. UND: Sie können definitiv nicht herausspringen oder verrutschen!

Merke:

Bandscheibenproblematiken machen nur einen kleinen Teil der Rückenbeschwerden aus.

Bandscheibenveränderungen haben eine hohe genetische Komponente.

Bandscheiben brauchen Belastung.

Bandscheiben verrutschen nicht, sie können auch nicht herausspringen.

Bandscheibenveränderungen laufen in vielen Fällen ohne Symptome ab uns sind Teil eines normalen Alterungsprozesses.

Gut ⅔ aller Bandscheibenvorfälle resorbiert der Körper von allein.

Eine aktivitätsorientierte Physiotherapie ist meist das Mittel der Wahl.

Mehr zu dem Thema "Bandscheibe" folgt in den nächsten Wochen.

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